Die soziale und gesundheitspolitische Bedeutung von Knochenerkrankungen und der Stand der Forschung in der Osteologie

Franz Jakob, Würzburg


Unter dem Begriff Muskuloskelettale Erkrankungen und Verletzungen werden entzündliche und degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparats sowie traumatische Verletzungen zusammengefasst. Für die Versorgung muskuloskelettaler Erkrankungen und Verletzungen werden in Deutschland derzeit etwa 16% des Gesamtvolumens an Gesundheitskosten aufgewendet, 25 Mrd. € für die Erkrankungen und mehr als 10 Mrd. € für die Verletzungen. Zusammengefasst ist dies etwas mehr als die Kosten für kardiovaskuläre Erkrankungen.


Alleine für die Volkskrankheit Osteoporose werden in Deutschland jährliche Kosten von mehr als 5 Mrd. € veranschlagt. Man schätzt, dass 3,5 bis 4 Mio. Frauen mit prävalenten Wirbelkörperfrakturen in Deutschland leben. Die jährliche Inzidenz neuer Wirbelkörperfrakturen wird aus unterschiedlichen Quellen zwischen 300.000 und 450.000 angegeben. Von 150.000 Schenkelhalsfrakturen, die sich pro Jahr ereignen, sind etwa 100.000 auf die Osteoporose zurückzuführen respektive durch Osteoporose begünstigt. In Österreich ereignen sich mehr als 12.000 Schenkelhalsfrakturen jährlich. Weltweit sind etwa 200 Millionen Menschen von der Osteoporose betroffen. Im Jahr 2000 ereigneten sich geschätzt 9 Mio. osteoporotische Frakturen, etwa 35 % davon in Europa, wofür etwa 30 Mrd. € aufgewendet werden mussten. Hierfür wurde in Europa der Verlust von 2 Mio. so genannter Disability Adjusted Life Years (DALYs) errechnet.

Allein dieser Auszug aus den epidemiologischen und ökonomischen Daten zeigt, dass Muskuloskelettale Erkrankungen eine große und zunehmende Bedeutung haben. Obwohl dieses Problem erkannt ist, besteht für die Osteoporose in Deutschland unverändert eine Unterversorgung. Nach neueren Erhebungen werden nur etwa 10 % aller Betroffenen mit einer leitliniengerechten Therapie versorgt.


Eine leitliniengerechte Behandlung, gezeigt am Beispiel der Osteoporose, würde Folgekosten einsparen helfen, die man in die Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention investieren sollte. Ein solcher Vorgang erfordert gesundheitspolitisches Umdenken und konsequentes Umsetzen evidenz-basierter Erkenntnisse in die Versorgung. In der gegenwärtigen angespannten Lage der Gesundheitsökonomie vieler Länder ist jedoch dem Primararzt ein leitliniengerechtes Handeln erschwert. Wir alle wollen hier auf diesem Kongress erneut durch Information und Diskussion sowie wissenschaftliche Analyse der bestehenden Probleme zur Verbesserung der Versorgung beitragen und damit zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger gesellschaftlicher Probleme. Unser Hauptbeitrag neben der Diskussion mit der Politik liegt darin, dass wir eine hohe Qualität der Ausbildung von Spezialisten vorhalten, um das Umsetzen neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse flächendeckend zu gewährleisten. Wir stehen also bereit, medizinisch umzusetzen, was politisch sinnvoll und gewollt ist. Wir fordern hierfür alle Beteiligten zu einer ehrlichen und konstruktiven Diskussion auf.


Die Forschung im Bereich Muskuloskelettale Erkrankungen ist in den letzten 15 Jahren mit großen Schritten vorangekommen. Wir haben erstmals Studien zur Verfügung, die für die Behandlung der Osteoporose höchsten internationalen Standards der evidenz-basierten Medizin genügen. Das Niveau der grundlagenassoziierten Forschung ist ständig gestiegen. Wir wissen heute mehr denn je über die Reifungswege von Bindegeweben, zu denen z.B. Knochen, Knorpel, Muskel, Bänder, Sehnen, Bandscheiben und Fettgewebe zu zählen sind. Aus diesen Kenntnissen heraus können neue Medikamente für die systemische und die lokale Behandlung entwickelt werden, die z.B. für die Osteoporose und die Verbesserung der Knochenheilung eingesetzt werden können. Diese Innovationen müssen aber auch ermöglicht werden. Die drängende epidemiologische Entwicklung erfordert noch mehr Effizienz in der Umsetzung gewonnener Erkenntnisse.


Molekulare Mechanismen degenerativer Krankheiten wie der Arthrose und der Bandscheibendegeneration sind nur ansatzweise bekannt, ebenso die Defekte der Knochenheilung und Knochenregeneration bei Osteoporose. Auch die Erforschung seltener Erkrankungen wie der Osteogenesis Imperfecta sollte vorangetrieben werden, um bessere Behandlungsmöglichkeiten entwickeln zu können.

Der Einsatz zellbasierter Therapieverfahren für den Ersatz von Knorpel ist in die klinische Routine übergegangen, für die Knochenheilung gibt es bereits gentechnisch hergestellte Wachstumsfaktoren, das Potential von eigenen Stammzellen aus dem Knochenmark wird für verschiedene Verfahren wird präklinisch und klinisch geprüft.


All diese Entwicklungen sind sehr begrüßenswert. Auch auf diesen Gebieten müssen jedoch die Anstrengungen intensiviert werden, will man der schnellen internationalen Entwicklung und der drängenden klinischen Probleme gerecht werden.
Deutschland liegt bei der Verordnung innovativer Therapieverfahren auf einem der letzten Plätze in Europa.
Wir treten dafür ein, wieder ein Klima der wissenschaftlichen Neugier zu schaffen, das Innovationen hervorbringt, die Fortschritt generieren. Die Erforschung Muskuloskelettaler Erkrankungen und Verletzungen wurde in den Jahren letzten Jahren vom Deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit etwa 13 Mio. € / Jahr gefördert. Das entspricht etwa 2,8 % aller Forschungsmittel für ein Krankheitssegment, das 16 % aller Gesundheitskosten verbraucht. Dieses offensichtliche Missverhältnis sollte vor dem Hintergrund der oben diskutierten Probleme revidiert werden.


Zusammenfassend haben Muskuloskelettale Erkrankungen und Verletzungen eine zunehmende Bedeutung in unseren europäischen Gesellschaften und auch weltweit. Sie verursachen eine erhebliche Krankheitslast für das Individuum und die Solidargemeinschaften. Nur die ganz bewusste Propagation eines Katalogs von Maßnahmen für die Primär- bis Tertiärprävention und adäquate Investitionen in die Grundlagenforschung mit schneller und effizienter Translation und ständiger Analyse der Versorgungslage wird uns befähigen, die bevorstehenden Herausforderungen zu bewältigen.


Prof. Dr. Franz Jakob, Osteologie Kongress 2007, 28.Februar – 3.Marz 07. www.osteologie2007.de

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