Wie wird entschieden, ob und womit eine Osteoporose zu behandeln ist?
Prof. Dr. med. Helmut W. Minne
Einführung
Der biologisch-natürlich lebende Mensch hatte früher eine Lebenserwartung, die deutlich niedriger war als die des heute lebenden Bundesbürgers. Nicht nur, dass die Säuglingssterblichkeit um ein Vielfaches höher war als in der heutigen Zeit, Kinder starben an Pocken oder banalen Blinddarmentzündungen, Menschen jeden Lebensalters starben an Blutvergiftungen, spätestens mit 30 Jahren waren alle (!) gestorben, von wenigen Ausnahmen, deren Zahl im einstelligen Prozentbereich liegt, einmal abgesehen.
Unsere heutige Lebensführung und die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung haben unsere Lebenserwartung um ein Mehrfaches ansteigen lassen, Männer werden über 70, Frauen über 80 Jahre alt. Viele Krankheiten, die noch Anfang des vergangenen Jahrhunderts praktisch bedeutungslos waren, werden heute zunehmend häufig, nicht etwa weil wir heute kränker wären als früher, sondern ganz im Gegenteil, weil wir gesünder bleiben und weil deshalb Menschen der Altersgruppe, in der diese Krankheiten an Häufigkeit zunehmen, immer häufiger werden.
Dies gilt in besonderem Maße für die Osteoporose und die durch Osteoporose verursachten Spätkomplikationen, die Knochenbrüche. Legt man die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde, so ist bei mehr als der Hälfte der 80-jährigen der Knochenmineralgehalt im Sinne einer Osteoporose erniedrigt. Das Risiko von Knochenbrüchen nimmt mit zunehmendem Alter explosionsartig zu. So beträgt z.B. das jährliche (!) Risiko eines Oberschenkelhalsbruches bei 80-jährigen Menschen zwischen 10 und 20 %.
Jährlich erleben in Deutschland zwischen 70.000 und 80.000 Menschen osteoporotische Wirbelkörperbrüche, jährlich tritt bei etwa 130.000 Männern und Frauen in Deutschland ein Oberschenkelhalsbruch auf.
Die Zahl der in Deutschland an Osteoporose Leidenden ist hoch, beträgt wahrscheinlich mehr als 6 Millionen. Männer sind mit zunehmendem Lebensalter zunehmend häufig betroffen, Osteoporose ist keineswegs die Krankheit allein der altgewordenen Frau.
Osteoporose ist jedoch nicht die einzige Krankheit, die in Deutschland nach Behandlung ruft. Alt gewordene Menschen haben häufig eine Reihe von Störungen zu verkraften, zum Beispiel Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Asthma u.a.m. Man nennt dies Multimorbidität.
Die Behandlung all dieser Krankheiten kostet Geld. Medikamente, die zu verordnen sind, gibt es nicht kostenlos. Große Summen müssen hierfür bereitgestellt werden und die Furcht steigt, dass irgendwann einmal die Summe aller Krankenkassenbeitragszahler diese Gelder nicht aufbringen können. Würde man alles Mögliche in der Medizin tun, so wären, so die Skeptiker, in Kürze alle Budgets überfordert.
Aus diesem Grunde gewinnen Mechanismen der Mittelverteilung zunehmend an Bedeutung. Wenn das Geld nicht mehr für alles Mögliche reicht, dann muss gesteuert werden, wofür welche Gelder als Kassenleistung bereitzustellen sind. Dieser Steuerzwang leuchtet ein, wenn die Frage beantwortet werden muss, ob Haarwuchsmittel oder Erektionshilfen in jedem Fall eine Kassenleistung sein müssen. Man tut sich auch schwer, die Bereitstellung von Mitteln bei einzelnen chronischen Krankheiten durchzusetzen. Den Satz „Für Sie habe ich kein Geld in meinem Budget“ haben sich im Laufe der letzten Jahre zunehmend häufig Patienten mit Osteoporose anzuhören gehabt. Die Vorstellung, dass alle Patienten, die an einer Osteoporose leiden, medikamentös und aufwendig zu behandeln seien, erscheint vielen in diesem Lande absurd.
Der folgende Beitrag beschäftigt sich daher mit der Frage, ob und womit Patienten mit Osteoporose zu behandeln sind. An den Anfang der Ausführungen sei die Hypothese gestellt, dass alle Bürger dieses Landes, die an einer Osteoporose leiden oder durch eine Osteoporose bedroht sind, behandelt werden müssen, auch wenn die hierfür einzusetzenden Mittel Geld kosten.
Evidence based Medicine
Die hier dargestellten Probleme gelten nicht erst heute und keineswegs nur in Deutschland. In vielen Ländern mit einer der unseren vergleichbaren medizinischen Versorgung werden diese Fragen seit Jahren diskutiert. Auf der Suche nach Lösungsmöglichkeiten wurden Entscheidungshilfen entwickelt, die es erlauben, objektiv zu begründen, warum ein Patient mit einer gegebenen Krankheit zu therapieren ist und womit.
Mehr und mehr wird dabei anerkannt, dass derartige Entscheidungen auf die fairste Weise gefällt werden, wenn man ihnen die Prinzipien einer Evidence based Medicine zugrunde legt. Dieser englischsprachige Begriff steht für ein medizinisches Handeln, das rational begründbar ist und auf objektiv darstellbaren Erfahrungen beruht. Seine Anwendung wird auch mit den Überlegungen begründet, dass Menschen eine Behandlung nicht mehr als Folge eines Experten-Statements erhalten, sondern dass die Regeln der Behandlungsentscheidungen demokratisch kontrollierbar sein sollen und auf diese Weise unseren heutigen Kulturvorstellungen mehr entsprechen, als gelegentlich autoritär herbeigeführte medizinische Anordnungen.
Evidence based Medicine berücksichtigt 3 Aspekte:
1. Stehen überhaupt Therapeutika zur Verfügung, die bei einer gegebenen Krankheit erfolgreich eingesetzt werden können. Wichtig ist dabei, wie der Erfolg definiert wird. Bei chronischen Krankheiten gilt als Erfolg, wenn die Häufigkeit krankheitsbedingter Spätkomplikationen verringert werden kann, bei einer Diabetes Therapie also die Häufigkeit von diabetischen Erblindungen, bei einer Hochdrucktherapie die Häufigkeit von Schlaganfällen oder bei der Behandlung von Fettstoffwechselstörungen die Häufigkeit von Herzinfarkten.
Untergeordnet wird dabei die Fähigkeit eines Medikamentes, allein Laborwerte oder technische Messgrößen zu beeinflussen. Diese haben lediglich den Charakter von Hilfsmitteln bei der Bewertung eines Behandlungserfolges. Gezählt wird nur, ob das Risiko klinisch relevanter Krankheitsfolgen vermindert werden kann.
Auf die Osteoporose angewandt heißt dieses, dass Medikamente auf ihre Fähigkeit zu überprüfen sind, das Risiko osteoporotischer Knochenbrüche zu senken. Von geringerer Bedeutung ist, wie dabei der Knochenmineralgehalt ansteigt oder ob sich Laborwerte, die den Knochenstoffwechsel beschreiben können, positiv verändern. Ein Medikament gilt nur dann als erfolgreich, wenn durch seinen Einsatz die Zahl der Patienten, die osteoporotische Brüche erleiden, messbar zurückgeht.
Zur Überprüfung der therapeutischen Möglichkeiten eines Medikamentes werden klinische Studien durchgeführt. Sie sind, wie dies bei allen Überprüfungen von Medikamenten gegen die Folgen chronischer Krankheiten schlechthin üblich ist, außerordentlich aufwendig. Während sich noch vor wenigen Jahrzehnten derartige Untersuchungen mit der Überprüfung des therapeutischen Erfolges bei kleinen Teilnehmerzahlen begnügten, häufig weniger als 100 hatten an den Studien teilgenommen, gelten heute Studien nur noch als zuverlässig, an denen zwischen 1.000 und 10.000 freiwillige Versuchspersonen teilgenommen haben.
Die Studienprotokolle sind dabei inzwischen standardisiert und Gesundheitsbehörden, die mit der Zulassung neuer Medikamente beauftragt sind, sind gehalten, die korrekte Nutzung derartiger Studienprotokolle zu überwachen.
Als höchstwertig gelten Therapiestudien, die als prospektive, randomisierte, kontrollierte Doppelblindstudien geplant und durchgeführt wurden. Der gesamte Studienablauf muss bis hin zur Auswertung der Ergebnisse als Plan vor Studienbeginn vorliegen. Neben den Patienten, die den neuen Wirkstofferhalten, müssen solche untersucht werden, die dieses Medikament nicht erhielten oder lediglich Medikamente, deren Wirksamkeit aus der Erfahrung der Vergangenheit anzunehmen war. Weder der betreuende Arzt noch der teilnehmende Patient dürfen wissen, ob das gegebene Präparat ein Verum ist, also den Wirkstoff enthält, oder ein Placebo, also wirkstofffrei ist.
An dieser Stelle soll betont werden, dass die Teilnahme an derartigen Studien immer freiwillig ist und dass diese Studien durch Ethikkommissionen streng überwacht werden. Alle Teilnehmer, und bei Osteoporosestudien der letzten Jahre handelt es sich dabei um mehr als 40.000, verdienen unseren ausdrücklichen Dank, weil sie es durch ihre Teilnahme ermöglichen, dass zuverlässige Zahlen zur Wirkung eines Medikamentes gewonnen werden können.
Auf diese Weise kann die Vielzahl der bei Osteoporose theoretisch einsetzbaren Medikamente im Hinblick auf das erwartbare Behandlungsergebnis klassifiziert werden. Eine A-Klassifikation erhalten die Präparate, bei denen mehrere derartige Studien durchgeführt wurden und bei denen alle Studien gleichsinnige Ergebnisse erbrachten. Eine B-Klassifikation erhalten die Medikamente, bei denen ebenfalls mehrere Studien durchgeführt wurden, wobei die Ergebnisse jedoch uneinheitlich waren, d. h., in einer Studie wurde ein Behandlungserfolg gesehen, in einer anderen dagegen nicht. C-klassifiziert sind die Medikamente, bei denen derartige Studien überhaupt noch nicht durchgeführt wurden, bei denen der Wirkungseintritt aus den Ergebnissen sog. retrospektiver Studien geschlossen wird. Hierbei werden zurückblickend die Krankengeschichten behandelter und unbehandelter Menschen verglichen, dies in der Erwartung, dass Unterschiede im Krankheitsverlauf erkennbar sind.
Es herrscht international Übereinstimmung darüber, dass A-klassifizierte Medikamente B-klassifizierten überlegen sind und diese wiederum einen Vorteil gegenüber C-klassifizierten Medikamenten aufweisen. Es gibt also eine Hierarchie, die dem Arzt bei der Entscheidung, welches Medikament am sinnvollsten einzusetzen ist, helfen kann.
Das ganze birgt natürlich Probleme:
Studien der Größenordnung, die heute bei der Überprüfung von Medikamenten gegen Osteoporose durchgeführt werden, sind kostenträchtig: Pro Studie kommen Kosten in Höhe von mehreren Millionen Mark schnell zusammen.
Solange derartige Studien und dies ist heutzutage in der Mehrzahl unserer Länder noch alltägliche Realität, jedoch nur durch die Medikamentenhersteller finanziert werden, wird eine derartige aufwendige Prüfung nur bei Substanzen durchgeführt, die noch patentgeschützt sind, die also dem Hersteller bei Erfolg der Überprüfung Einnahmen aus dem Vertrieb versprechen, der ohne Furcht vor Nachahmern gestaltet werden kann. Ist dagegen eine Substanz nicht mehr patentgeschützt, so wird ihre Herstellerfirma allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen die Mittel für die Durchführung von an sich zu fordernden Studien nicht mehr aufbringen können, weil sie bei erfolgreichem Studienabschluss bedroht sind, den wirtschaftlichen Erfolg ihres Handelns durch Nachahmerprodukte nicht zu realisieren.
Substanzen, die billig sind, die aber trotzdem möglicherweise wirksam sind, verlieren in diesem System Reputation, weil sie nicht mehr in einer Weise überprüft werden, die das Erreichen einer A-Klassifikation ermöglichen könnte.
Wenn also unsere Gesellschaft wünscht, dass auch derartige Medikamente angemessen überprüft werden, dann muss unsere Gesellschaft Finanzierungsmodelle hierfür entwickeln, die von den Herstellerfinanzierungen unabhängig sind. So darf es also nicht verwundern, dass wir unter den bestklassifizierten Medikamenten zur Therapie der Osteoporose, den A-klassifizierten, ausschließlich neuere Entwicklungen finden, patentgeschützte Substanzen.
So wurden die neuen Bisphosphonate Alendronat und Risedronat sowie der sog. selektive Östrogen-Rezeptor-Modulator (SERM) Raloxifen in umfangreichen Studien überprüft. Die Ergebnisse dieser Therapiestudien waren positiv. Sie sind plausibel und bei verschiedenen Untersuchungen übereinstimmend. Bei Anwendung der Prinzipien einer Evidence based Medicine muss diesen Präparaten Überlegenheit gegenüber allen anderen spezifischen Osteoporosetherapeutika eingeräumt werden.
Auch die Sicherung der täglichen Versorgung mit Calcium (1.000-1.500 mg) und Vitamin-D (800-1.000 E) ist therapeutisch hilfreich. Bei angemessener Dosierung von Calcium- und Vitamin-D-Supplementen kann davon ausgegangen werden, dass dies das Risiko zukünftiger Knochenbrüche senkt. Die entsprechenden Studien wurden jedoch bei Angehörigen der Normalbevölkerung durchgeführt. Die Empfehlungen, derartige Möglichkeiten zu nutzen, gelten also nicht nur bei Patienten mit Osteoporose allein, sondern für die älter werdende Gesamtbevölkerung. Ursache des eindrucksvollen Erfolges einer Vermeidung von Calcium-und Vitamin-D-Mangel ist u. a., dass bei Vitamin-D-Mangel die Muskelfunktion beeinträchtigt wird, die Gang- und Standsicherheit verloren geht, das Risiko zukünftiger Stürze steigt. Gehäuftes Stürzen wiederum ist als Risikofaktor für osteoporotische Knochenbrüche anerkannt.
2. Ist zu erwarten, dass behandelte Patienten gegenüber unbehandelten Patienten unmittelbar wahrnehmbare Vorteile erwarten können?
Wenn durch Therapie bei Osteoporose die typischen Spätkomplikationen der Krankheit, die Knochenbrüche, verhindert werden können, so ist dies allein noch kein Grund dafür, diese Medikamente breit einzusetzen. Es könnte sein, dass die verhinderbaren Spätkomplikationen für das Leben eines Menschen von minderer Bedeutung sind, ihn nicht behindern und allenfalls kosmetische Konsequenzen haben (kleiner werden, Rundrücken).
Die Behandlung einer Krankheit ist jedoch zu empfehlen, wenn ihre Spätkomplikationen geeignet sind, die subjektive und objektive Lebensqualität eines Menschen zu beeinträchtigen. Wirbelbrüche, Armbrüche und Oberschenkelhalsbrüche zählen zu den klassischen Spätkomplikationen einer unbehandelten Osteoporose.
Es herrscht Übereinstimmung in der Gesellschaft, dass chronische Krankheiten zu behandeln sind, wenn sich ihre Spätkomplikationen lebensverkürzend auswirken. Dies ist inzwischen sowohl bei den Wirbelbrüchen als auch bei den Oberschenkelhalsbrüchen bewiesen worden. So steigt das Risiko vorzeitigen Sterbens bei Menschen mit sog. klinischen Wirbelkörpereinbrüchen (etwa 50% aller Wirbelbrüche) während der ersten 6 dem Ereignis folgenden Monate um das mehr als achtfache an. Dabei wird der Wirbelbruch nicht zur unmittelbaren Sterbeursache, sondern das durch Wirbelbruch erzeugte Krankenlager. Man spricht von einer Akzentuierung der Multimorbidität des Alters. Praktisch heißt dies, dass durch das Krankenlager selbst das Risiko komplizierender und zum Teil gefährlicher Folgekrankheiten ansteigt, also z.B. Lungenentzündung, Embolie, Herz-Kreislaufversagen.
Es blieb lange verborgen, dass bei derartig Sterbenden ein Wirbelbruch letztendlich zur Sterbeursache wurde. Erst die Auswertung umfangreicher Behandlungsstudien förderte dieses zutage. Man nahm früher die tödlichen Konsequenzen eines Wirbelbruches nicht wahr, weil bei diesen Patienten auf dem Totenschein nur die unmittelbar zum Tode führenden Diagnosen genannt wurden, also Herz-Kreislaufversagen, Lungenentzündung oder Embolie. Der Wirbelbruch, der letztlich all dies herbeigeführt hatte, blieb in aller Regel ungenannt.
Patienten mit Osteoporose erleiden nicht nur einen Wirbelbruch, sondern, wenn sie nicht angemessen behandelt werden, einen Wirbelbruch nach dem anderen. Körpergröße geht verloren, die Funktion des Achsenskelettes und seiner Anhangsorgane (Muskulatur, Bänder, Gelenke) wird beeinträchtigt.
Dies beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit im Alltag durch Beschwerden, chronische Schmerzen, leichte Ermüdbarkeit. 30% der Betroffenen sind im Alltag bei alltäglichen Verrichtungen von Fremdhilfe abhängig.
Hinzu kommt, dass der frische Wirbelbruch zu den schmerzhaftesten Ereignissen zählt, die Menschen überhaupt erleben. Dies wird auch von Patienten bestätigt, die den Schmerz des Herzinfarktes aus eigener Erfahrung kennen und auch von Frauen, bei denen das Gebären von Kindern mit Schmerzen assoziiert war.
Die Mehrzahl aller Wirbelbrüche kann bei rechtzeitig einsetzender Therapie einer 0steoporose verhindert werden. All diese hier dargestellten Folgen sind also durch angemessene Behandlung verhinderbar. 20% aller vom Oberschenkelhalsbruch Betroffenen werden versorgungspflichtig invalide, 20% sterben im Vergleich zu Kontrollpersonen während der ersten 12 dem Ereignis folgenden Monate vorzeitig. Auch bei ihnen wird die allgemeine Krankenbelastung durch die Folgen des Oberschenkelhalsbruches zur Todesursache. Mehr als die Hälfte von ihnen wird die ursprüngliche Mobilität nicht mehr erreichen, auch wenn sie vor dem Oberschenkelhalsbruch noch mobil und leistungsfähig waren. 70% können Treppen nicht mehr steigen, mehr als 50% sind bei alltäglichen Aufgaben (morgendliches Bekleiden, Waschen, Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln, etc.) abhängig geworden.
Bei Einsatz der heute zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten kann der Hälfte der heute noch jährlich 130.000 vom Oberschenkelhalsbruch bedrohten Bundesbürger dieses Schicksal erspart bleiben. Auch hier ist also der unmittelbare Wert einer Behandlung für die betroffenen Patienten erkennbar und erlaubt somit nur eine Schlussfolgerung:
Wenn die Möglichkeit zur Verhinderung derartiger Ereignisse zur Verfügung steht, so ist sie breitest anzuwenden.
3. Kann sich unsere Gesellschaft überhaupt die Therapie aller Patienten mit Osteoporose wirtschaftlich leisten?
Es war der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen, dass wirtschaftliche Gründe dazu zwingen, zukünftig den Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel zu steuern. Dies verpflichtet dazu, Überlegungen anzustellen, ob eine allgemeine Therapie der Osteoporose in unserer Gesellschaft überhaupt leistbar ist.
Dabei sind mehrere Dinge zu berücksichtigen
Die zur Verfügung stehenden Mittel sind das Produkt der Krankenkassenbeitragszahlung aller Mitglieder aller Krankenkassen. Diese Gelder fallen also nicht vom Himmel, werden nicht huldvoll gewährt, sondern werden von der Summe aller Krankenkassen-Versicherten aufgebracht. Krankenkassen bestehen ausschließlich dadurch, dass ihre Mitglieder sie bezahlen! Hieraus leitet sich das Recht der Zahlenden ab, angemessen am Produkt ihrer Zahlungen beteiligt zu werden, also Behandlungen zu erhalten.
Dies ist besonders herauszustellen, weil gerade in der heutigen Zeit zunehmend häufig älter gewordene Patienten mit Aussagen wie „wir zahlen doch nichts für 80 Jährige“ konfrontiert werden (entsprechende eidesstattliche Versicherungen können vorgelegt werden).
Nicht nur der Einsatz von Therapeutika zur Verhinderung von Spätkomplikationen kostet Geld, sondern auch die Versorgung der Patienten, bei denen Spätkomplikationen auftraten, weil sie nicht behandelt wurden.
Bei wirtschaftlichen Überlegungen muss also eine Bilanz aufgemacht werden, bei der nicht nur die Kosten durch Therapie der Grundkrankheit berücksichtigt werden, sondern auch die Kosten für die mangels Therapie auftretenden Spätkomplikationen.
Für die 130.000 jährlich vom Oberschenkelhalsbruch betroffenen Patienten müssen durchschnittlich im ersten dem Ereignis folgendem Jahr zwischen 35.000 und 40.000 DM für die Behandlung aufgewandt werden. Diese Aussage stützt sich auf Untersuchungen aus Skandinavien, aus Großbritannien, den Beneluxländern und auch in Deutschland. Lediglich für die Schweiz wurden höhere Beträge ermittelt.
Allein für die Versorgung der Patienten mit eingetretenen Oberschenkelhalsbrüchen sind also pro Jahr zwischen 5 und 6 Milliarden DM bereitzustellen.
Das Ausmaß der Aufwendungen wird plausibel, wenn man sich Zahlen des Statistischen Bundesamtes in Erinnerung ruft: Der Anteil der Krankenhausbettentage die für diese Patienten benötigt wurden, lag im Hinblick auf die Häufigkeit mit 3,4% an 2. Stelle hinter dem Anteil der Krankenhausbettentage die für Patienten mit kardiovaskulärem Versagen benötigt werden. Der Anteil der Krankenhausbettentage, die für Patienten mit Wirbelverletzungen benötigt werden (von denen der größte Teil Folge osteoporotischer Wirbeleinbrüche sind) lag mit 1,4% noch höher als der Anteil der Krankenhausbettentage für Patienten mit Herzinfarkten. Vor Jahren schon wurde für Dänemark berechnet, dass der Anteil der für die Versorgung von Patienten mit Oberschenkelhalsbrüchen benötigten Krankenhausbettentagen höher war, als der für die Versorgung von Patienten mit Schlaganfall und Herzinfarkt zusammen.
Die Gesamtkosten für die Versorgung aller Patienten mit osteoporotischen Knochenbrüchen dürften in Deutschland im Bereich zwischen 8 und 10 Milliarden DM liegen.
Dem steht gegenüber, dass heutzutage die Gesamtumsätze aller bei der Therapie der Osteoporose in Deutschland eingesetzten Medikamente weniger als 300 Millionen DM pro Jahr betragen. Die Kosten aller Knochendichtemessungen lagen in der Zeit vor der durch die Bundeskommission verursachten Beschränkung dieser diagnostischen Leistung bei 200 Millionen DM.
Insgesamt werden also in Deutschland für Frühdiagnostik und pharmakologische Therapie pro Jahr deutlich weniger als 500 Millionen DM aufgewandt. Dies ist weniger als 10% der Kosten, die schon heute für die Versorgung alter Menschen mit Knochenbrüchen aufgebracht werden müssen.
Nun ist die Vorstellung, dass sich durch die Therapie einer Krankheit objektiv für das Gesundheitssystem Geld verdienen lässt, absurd. Dies ist auch nicht zu fordern, weil die Patienten mit ihren Ansprüchen nicht neu entstehende Wesen sind, sondern weil es sich um Menschen handelt, die über Jahrzehnte Krankenkassenbeiträge geleistet haben. Anerkannt ist, dass medizinische Intervention Geld kosten darf. Theoretisch wird festgestellt, dass ein Quality Adjusted Life Year (QUALY = die Verlängerung des Lebens um ein Lebensjahr in Lebensqualität) zwischen 50.000 und 60.000 DM kosten darf. Solange dieser Betrag nicht überschritten wird, gilt eine Behandlung als gesundheitsökonomisch sinnvoll.
Wenn also die Mehrzahl aller Wirbelbrüche verhindert werden kann und etwa die Hälfte aller Oberschenkelhalsbrüche, so reduziert dies die Kosten für die Versorgung der Patienten mit diesen Knochenbrüchen. Die dadurch zur Frühtherapie zur Verfügung stehenden Mittel liegen im Bereich von mehr als 4 Milliarden DM pro Jahr. Dies sind 3,5 Milliarden DM mehr, als heutzutage für Frühdiagnostik und Frühtherapie der Patienten mit Osteoporose aufgebracht wird.
Zusammenfassung
Unter Anerkennung der Tatsache, dass medizinische Ausgaben in der heutigen Zeit nicht mehr unkontrolliert oder nur begrenzt kontrolliert getätigt werden sollten, wurde die Frage, ob die Therapie der Osteoporose sozialmedizinisch und gesundheitsökonomisch sinnvoll ist, kritisch beleuchtet. Es zeigt sich, dass die Kriterien erfüllt sind, die für breiten Einsatz therapeutischen Vorgehens zu fordern sind:
Es stehen wirksame Medikamente zur Verfügung. Ihr Einsatz lässt positiven Einfluss auf die objektive Lebensqualität der behandelten Patienten erwarten, auch aus wirtschaftlichen Überlegungen ist er zu fordern.
Schlussbetrachtung
Wie kommt es aber dann, dass nach wie vor die Osteoporosen in weiten Kreisen der Bevölkerung als Modekrankheiten abgetan werden, als aufgebauschtes künstliches Problem bewertet werden? Das ist doch bei den anderen chronischen Krankheiten der älter werdenden Menschen wie Krankheiten des Kreislaufsystems, chronische Gelenkveränderungen, Diabetes mellitus völlig anders. Allerdings ist ganz allgemein die Situation bei diesen anderen Krankheiten anders:
Wenn die Notwendigkeit der Behandlung kardiovaskulärer Krankheiten diskutiert wird, dann melden sich die kardiologischen Experten zu Worte, von denen es an deutschen Kliniken, insbesondere aber auch an deutschen Universitätskliniken sehr viele gibt. Osteologische Experten sind in Deutschland selten. 0steologische Universitätsabteilungen selbstständigen Zuschnitts gibt es nicht. Es gibt zu wenig Repräsentanten, die sich für die Interessen der Patienten mit Osteoporose in die Bresche werfen können.
Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Osteoporosen um eine echte Volkskrankheit handelt, die von herausragender sozialmedizinischer und gesundheitsökonomischer Bedeutung sind, muss daher gefordert werden, dass Hochschul- und Forschungseinrichtungen geschaffen werden, die dieses Gebiet angemessen behandeln. Zu denken ist dabei an die Gründung selbständiger Unversitätsabteilungen, auch an die Gründung eines Max-Planck-lnstituts für präklinische und klinische Osteologie. Es ist an der Zeit, dass Deutschland durch die Gründung derartiger Einrichtungen Anschluss an das „osteologische Niveau“ unserer Nachbarländer gewinnt. Verglichen mit ihnen sind wir nämlich osteologisch ein Entwicklungsland!
Gesundheitspolitik ist auch Forschungspolitik. Neben den Gesundheitsbehörden sind also auch unsere Forschungsministerien in Zukunft in der Pflicht.
Prof. Dr. med. Helmut W. Minne
Klinik Der Fürstenhof und Institut für Klinische Osteologie,
Gustav Pommer e.V.
Am Hylligen Born 7
31812 Bad Pyrmont